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Ehrenrettung für die Schabe

Kakerlaken werden vom Menschen als eklig geschmäht - dabei leben sie in egalitären Gemeinschaften, lieben Gesellschaft und behandeln Fremde freundlich

SEBASTIAN HERRMANN

Sie sind die Aussätzigen, die Paria der Insektenwelt. Sie leben in dunklen Ritzen und wagen sich nur bei Nacht ins Freie. Sie tauchen in Endzeitfilmen auf, in denen sie die Rolle des Lebewesens abonniert haben, das sogar einen Atomkrieg übersteht. Seit einigen Jahren wimmeln sie auch durch das Programm von Privatfernsehsendern: Dann müssen es Tausende der sechsbeinigen Tiere zusammen mit dem Ausschuss der deutschen Semiprominenz in engen Gefäßen aushalten. Ekelfernsehen werden Sendungen wie das Dschungelcamp genannt, weil darin regelmäßig Kakerlaken auftauchen, von denen hier die Rede ist. Auch der erfolgreichste Ausflug der Schaben in die Populärkultur gereicht den Tieren nicht zur Ehre: 'La Cucaracha' (Die Kakerlake) ist ein Spottlied aus Zeiten der mexikanischen Revolution zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Darin wird der General Victoriano Huerta als drogensüchtige Schabe verhöhnt, der ohne Marihuana nicht auf die Beine kommt. Auch in diesem Lied dient die Kakerlake nur als Referenz für das Widerwärtige, Abstoßende und Parasitäre.

Kakerlaken sollten nicht länger auf solch schäbige Weise verhöhnt werden. Denn die meisten der mehr als 4000 Kakerlakenarten, die auf allen Flecken der Erde mit Ausnahme der Pole leben, leisten Außergewöhnliches. Besonders die 25 Arten, die sich in die Behausungen der Menschen einschleichen, verblüffen Insektenforscher. Am meisten angetan sind Entomologen von zwei Arten: der Amerikanischen Kakerlake (Periplaneta americana) und der Deutschen Schabe (Blattella germanica). Es ist also an der Zeit, den Aussätzigen mit sechs Beinen ein kleines Denkmal zu errichten und ihren Ruf ein wenig rein zu waschen.

Der Biologe Mathieu Lihoreau von der Universität Sydney zeichnet in einem Überblicksartikel zur Soziobiologie der Kakerlake ein fast rührendes Bild der Schabe (Insectes Sociaux, online). Überspitzt ließe sich sagen, die geselligen Tiere leben im Zustand eines hierarchielosen Proto-Kommunismus: Sie sind gesellig, freundlich zu Fremden und Verwandten, sie teilen ihr Futter und wenn es einmal Stress gibt, dann nur weil das mit der freien Liebe nicht ganz reibungslos klappt. Sex ist auch für Kakerlaken eine überwältigende Angelegenheit.

Die Forschung nahm von diesen Eigenschaften lange kaum Notiz. In den vergangenen Jahrzehnten haben Biologen lieber das Leben staatenbildender Insekten untersucht. Sie haben etwa die Arbeitsteilung unter Turnierameisen entschlüsselt, die ihre Konflikte mit feindlichen Völkern in großen Showkämpfen ausfechten. Andere Insektenkundler analysierten die Orientierungskünste von Honigbienen und diskutierten über das Bienenvolk als Superorganismus. Das Zusammenleben der Kakerlake kümmerte nur Freaks.

Wenn sich Wissenschaftler schon mit Schaben beschäftigen, dann interessiert sie meist deren Widerstandsfähigkeit. Was ertragen diese Tiere, ohne zu krepieren? So teilte kürzlich eine Arbeitsgruppe um den Biomediziner Simon Lee von der Universität Nottingham mit, das Nervengewebe der Insekten produziere antibiotisch wirksame Stoffe. In Laborversuchen hätten angesichts dieser Substanzen sogar die gefürchteten MRSA-Keime die Waffen gestreckt. Der Biologe Charlie Cockell sperrte Kakerlaken wiederum in eine Vakuumkammer und reduzierte den Druck auf mörderische 20 Prozent dessen, was auf der Erde sonst herrscht. Seine Kakerlaken blieben ungerührt und paarten sich. Dass die Tiere nichts umhauen kann, bewiesen Devin Jindrich und Robert Full von der Universität Berkeley vor einigen Jahren. Sie hatten Schaben Miniaturkanonen auf den Rücken geschnallt, die alle paar Augenblicke im 90Grad Winkel zur Laufrichtung feuerten. Die Kakerlaken korrigierten den Rückstoß blitzschnell und ließen sich von den Geschützen auf ihrem Panzer nicht aus der Bahn werfen.

Ähnliche Erkenntnisse finden sich so zahlreich wie Schaben in einer schmutzigen Restaurantküche. Kakerlaken wurden ins All geschossen und kehrten lebendig zurück. Sie bilden Resistenzen gegen Insektengifte, verstecken sich in winzigen Spalten und halten es mehrere Wochen ohne Nahrung oder Wasser aus. Nur dass die Insekten sogar einen Atomkrieg überleben würden, weil ihnen Radioaktivität nichts anhaben kann, scheint ein Mythos zu sein. 'Mir sind keine Belege dafür bekannt', sagt Kakerlakenforscher Lihoreau.

Ach ja, noch was: Kakerlaken sind die am schnellsten krabbelnden Insekten der Welt. Sie erreichen Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 5,5 Kilometer pro Stunde. Und noch ein Superlativ: Die Tiere tauchen in so gut wie jeder Studie über Ekel auf. Die amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt und Paul Rozin führen Kakerlaken zum Beispiel an prominenter Stelle in der von ihnen entwickelten Ekel-Skala.

Schauergeschichten und plakative Forschungsergebnisse haben sich zu einem Bild vereint, das die Kakerlake als zombiehaftes Wesen zeigt, das Krankheitskeime verbreitet, Tod und Verderben bringt und unter Umständen gedeiht, unter denen jedes normale Lebewesen das Weite suchen oder den Tod finden würde. Doch Studien aus der jüngsten Zeit hätten 'verdeutlicht, dass die Vielschichtigkeit ihrer sozialen Strukturen und Gruppendynamiken einzigartig unter Insekten sind', sagt Lihoreau.

Hinter dieser nüchternen Formulierung verbirgt sich das Leben eines geselligen Tieres. Kakerlaken leben zwar in großen Gruppen. Aber sie bilden keine Staaten wie die sogenannten eusozialen Insekten wie Ameisen oder Bienen. Deren Völker sind streng hierarchisch mit einer Königin an der Spitze organisiert, die sich als einzige fortpflanzen darf. 'Trotz ihres evolutionären Erfolges stellen die eusozialen Insekten nur einen Bruchteil der Insektenarten dar, die in sozialen Gruppen leben', schreibt Lihoreau. Bei der Deutschen und der Amerikanischen Schabe versammeln sich Tiere aller Alters- und Entwicklungsstufen im gemeinsamen Unterschlupf, wobei das Geschlechterverhältnis zahlenmäßig meist ausgeglichen ist. Haben sich die Schaben in einem gut geeigneten Versteck eingerichtet, bleiben sie ihrer Insektenimmobilie treu, so lange sie in der Gegend ausreichend Nahrung finden - was durch das rasante Wachstum der Schabengemeinschaft auf Dauer schwer wird. 'Die Größe der Gruppe wächst exponentiell', sagt Lihoureau, und könne 'mehrere Millionen Tiere erreichen, je nach Kapazität der Unterkunft'.

Wie organisiert sich eine Riesentruppe Kakerlaken? Am genauesten ist das am Beispiel der Deutschen Schabe untersucht. Die Gemeinschaften verfügen über keine langfristige Dominanzhierarchie: Chef ist eine Schabe nur für einzelne Situationen. Auf Arbeitsteilung verzichten die Insekten ebenfalls, jeder sorgt für sich selbst. Die Unterkünfte stehen offen. In den Verstecken finden fremde Schaben ebenso wie Verwandte Unterschlupf.

Alle Tiere haben das Recht, sich fortzupflanzen. Was klingt wie ein Hippie-Utopia beim Kakerlakenfestival der Liebe, hat doch einen kleinen Haken. Da die Weibchen sich nur einmal in ihrem Leben paaren, streiten die Männchen untereinander um die Gunst unberührter Schabendamen - ihre Chancen sind rar.

'Diese Kakerlaken sind davon abhängig, ihr Leben in Gruppen zu verbringen', sagt Lihoreau. Isolation bekommt den Küchenplagen nicht gut. Wird einer Schabe über mehrere Tage Kontakt zu Artgenossen verwehrt, zeigen die Tiere Entwicklungsstörungen. Die Häutung bei Nymphen - noch nicht ausgewachsene Jungtiere - verzögert sich, und sie erreichen später als üblich die Geschlechtsreife. Isolierte Tiere erkunden ihre Umgebung zudem seltener und werben in Gesellschaft weniger erfolgreich um Partner als Artgenossen mit glücklicher Schabenkindheit. Diese besteht bei den Insekten aus reichlich physischem Kontakt: Schaben genießen es, zu einem Rudel gestapelt auf die Dunkelheit zu warten. Die Wärme, die im Kerbtiergedrängel entsteht, fördert das Wachstum des Nachwuchses; und indem die Tiere den Abstand zum jeweils nächsten Artgenossen austarieren, reduzieren sie ihren Flüssigkeitsverlust und regeln die Luftfeuchtigkeit in ihrem Versteck. Die Gruppe funktioniert wie ein großer Thermostat aus Chitin und zahllosen Beinchen.

Die Kommunikation läuft vor allem über chemische Kanäle. Mit Pheromonen wird um Partner gewoben, mit der Alarmvariante der Signalstoffe vor Feinden gewarnt. Duftspuren führen zu Nahrungsquellen - und wenn eine einzelne Schabe ein Versteck findet, wird sie sich dort eher niederlassen, wenn der Geruch von Artgenossen in der Luft hängt. Am Duft erkennen die Schaben ihre Verwandten, und in der Tat haben die Tiere einen ausgeprägten Familiensinn. Sie halten sich gerne in der Nähe ihrer Nächsten auf und sind zugleich als Sippe gut in das große Gewusel integriert.

Verlässt die Schabenbande ihr Versteck auf der Suche nach einer neuen Unterkunft, entscheidet die Gruppe basisdemokratisch über die neue Wohnung. Individuen schließen sich dem Verhalten anderer an. Entdeckt eine Kakerlake auf Erkundungstour einen bereits besetzten Unterschlupf, 'dann wechselt sie vom Such- in den Mitmachmodus', sagt Lihoreau. 'Je größer die neu entdeckte Gruppe, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tier sich anschließt.' Da die Schaben Neulinge freundlich behandeln und nicht verscheuchen, findet die Gruppe auf diese Weise per Mehrheitsentscheid einen Unterschlupf. Gegessen wird außer Haus: Kakerlaken bringen ihre Nahrung nicht zurück ins Versteck. Auf ihren kulinarischen Ausflügen tauschen sie Informationen über Leckerbissen aus. Das Essen selbst dauert umso länger, je größer die Gesellschaft ist.

'Hausschaben sind nicht nur gesellige Tiere, wie lange angenommen wurde', sagt Lihoreau, 'sie sind viel mehr als das: Sie bilden eine soziale Spezies, die sich durch komplexe Kommunikation und Grundformen von Kooperation auszeichnet.' Nur dummerweise sehen diese sechsbeinigen Hippies scheußlich aus, leben und fressen im Müll, vermehren sich wie die Pest und machen allenfalls Kammerjäger glücklich. Was soll man sagen - die Schabe verfügt über viele Talente und erntet nur Würgereflexe. Aber wer weiß, wenn General Victoriano Huerta gewusst hätte, was für bemerkenswerte Tiere diese Kakerlaken sind, dann hätte er sicher seine Militärkapelle angewiesen, täglich 'La Cucaracha' zu spielen. Andererseits, will sich ein hoher Offizier mit hierarchielosen Chaoten gemein machen? Es ist manchmal wirklich schwer, eine positive Haltung zu den Schaben einzunehmen.

Süddeutsche Zeitung | Samstag, den 26. Mai 2012 - Seite 24

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